Archiv der Kategorie: Gesundheit und Seele

Jeder Mensch ist ein Künstler

Lass Dich fallen. Lerne Schlangen zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemand Gefährlichen zum Tee ein.
Mache kleine Zeichen, die ja sagen
und verteile sie überall in Deinem Haus.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue Dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle so hoch Du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht.

Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere Dich, verantwortlich zu sein – tu es aus Liebe!
Mache eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Das Geld wird folgen.
Glaube an Zauberei, lache eine Menge.
Bade im Mondschein.

Träume wilde, phantasievolle Träume.
Zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell Dir vor, Du wärst verzaubert.
Kichere mit Kindern. Höre alten Leuten zu.
Öffne Dich. Tauche ein. Sei frei. Preise Dich selbst.

Lass die Angst fallen, spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in Dir. Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken. Werde nass. Umarme Bäume.
Schreibe Liebesbriefe.

(Joseph Beuys)

Über Bohnen und Löcher in Jackentaschen

Eben las ich eine wundervolle Geschichte. Nein, sie war mir nicht ganz neu – ich hatte sie schon einmal gelesen und mich darüber gefreut. Doch es ist ja so ein Phänomen, dass die kleinen und einfachen Dinge ganz leicht aus dem Gedächtnis herausfallen – wie eine Münze durch ein Loch in der Jackentasche.

Hier ist die Geschichte – ich weiss nicht, wer der Autor ist, wenn es denn überhaupt einen gibt… Wer das weiss, bitte melden, dann füge ich gern die Quelle und / oder einen Link den Namen ein. Gefunden wurde die Geschichte hier (danke an Lise – und hier gibts noch mehr Schönes zu entdecken).

Es war einmal eine sehr alte Frau, die glücklich und zufrieden lebte. Viele Menschen beneideten sie, weil sie eine echte Lebenskünstlerin war.
Die alte Frau verließ niemals ihr Haus ohne eine Handvoll getrocknete,
rote Bohnen mitzunehmen. Sie tat dies nicht etwa, um die Bohnen zu kauen, nein, sie steckte sie einfach in die rechte Tasche ihrer Jacke. Jedes Mal, wenn sie tagsüber etwas Schönes erlebte – den Sonnenaufgang, das Lachen eines Kindes, eine kurze Begegnung, ein gutes Mahl, einen schattigen Platz in der Mittagshitze nahm sie dies ganz bewusst wahr, freute sich darüber von Herzen und ließ eine Bohne von der rechten Tasche in die linke gleiten. War das Erlebnis besonders schön und gar überraschend, wechselten zwei oder drei Bohnen die Seite. Abends saß die alte Frau dann zu Hause und zählte die Bohnen aus der Tasche. Sie zelebrierte dies geradezu und führte sich so vor Augen, wie viel Schönes ihr an diesem Tag widerfahren war. Und auch an einem Abend, an dem sie bloß eine Bohne zählen konnte, war der vergangene Tag ein gelungener Tag – es hatte sich zu leben gelohnt.

Bohnen für die Jackentasche

Bohnen für die Jackentasche (Foto: AM)

Ich finde das sehr nachahmenswert. Nur scheint es mir auch sinnvoll, sich vorher um die Löcher in den Jackentaschen zu kümmern. Mir fällt genau das oft sehr schwer. Die Bohnen gleiten von rechts nach links, und dann gleich rein ins Loch. Oft kann ich mich schon abends nicht mehr daran erinnern. Irgendwohin verschwinden die kleinen Erinnerungen.
Mir ging eben auf, dass es wenig nützt, im türkischen Supermarkt günstig zehn Kilo Bohnen zu kaufen. Ich werde mich besser um die Löcher kümmern. Meine Mutter hatte doch Recht. Manchmal ist es hilfreich, Nadel und Faden zur Hand zu haben.

Allen Lesern wünsche ich schöne Weihnachten – und wem es so geht wie mir, dem wünsche ich dazu eine heiße Nadel und einen langen Faden – für einen löcherfreien Start ins neue Jahr – mit Aufbrüchen statt Vorsätzen.

Das Leben der Worte

Zuerst möchte ich zu einem kleinen Experiment anregen, das der eine oder andere vielleicht aus eigener Erfahrung kennt. Nimm ein Wort, ein beliebiges, und wiederhole es fünf Minuten lang – laut oder leise. Nimm Tempo auf, es muss schnell hintereinander sein. Noch eine Warnung: es sollte ein unschuldiges Wort sein, das keine große Bedeutung hat für dich. Es mag „Papier“ sein, oder „Mineralsalze“ oder „Diät“, „Laptop“, „Lampe“, „Zeitung“ oder „Wasserglas“, „Kopfsteinpflaster“  oder „Diagramm“.

Mir passierte dieses Experiment einmal unfreiwillig in einer Prüfung vor langer Zeit – der Prüfer stellte eine Frage, doch ich hatte nur noch das letzte Wort der Frage im Ohr. Es hallte und hallte und hallte, immer wieder nur dieses eine Wort, ich musste es wiederholen, in einer Blockade gefangen, bis jeglicher Sinn verschwunden war. So geht das im Negativen.

Irgendwann dieser Tage fiel mir in diesem Zustand von Halbschlaf, kurz vor dem Aufwachen auf, dass Worte, wenn wir immer die gleichen lesen und verwenden, ihre Substanz verlieren. Ihre Lebenskraft, ihren Saft, das, was die Spanier „sabor“ nennen. Sie werden fade, sperrig, magern ab und verhungern schließlich, wenn sie keine Nahrung bekommen. Was aber können wir Worten als Nahrung anbieten? Können wir verhungerte Worte wieder zum Leben erwecken?

Ich glaube, dass es geht. Mit gelebtem und gefühltem Leben. Nur so können wir sie nähren. Wir müssen das Leben hinter den Worten suchen gehen und finden in der Welt draußen. Und dann ist es manchmal sogar so, dass wir einen Text, den wir schon hundertmal gelesen haben, wieder entdecken und die Worte plötzlich Fleisch an die Knochen bekommen, füllig werden und rosig, aufblühen und in voller Bedeutung strahlen. Hier ein paar Beispiele: verwandeln, Hagebutte, Begeisterung, Inspiration, Bewegung, Garten, Boden, Draht, Mitteilung, Brief, Entwicklung, Rose, Ozean, Duft, Liebe.

Das geht aber auch umgekehrt: manche Worte begleiten uns wie diese Art von Hunden, die einem in südlichen Ländern hinterherlaufen und die man nicht los wird… Vielleicht geht es darum, ihnen nicht alle hundert Meter ein Leckerli zuzuwerfen… Auch hier ein paar Beispiele: Druck, Anspannung, Stuttgart 21, Agenda, Krise, Mangel, fremd, Intoleranz, falsch, richtig, dumm, Unterschicht.

Vielleicht ist es möglich, diesen Worten die Nahrung zu entziehen. Aber wie geht das? Sie nicht mehr leben? Aber wie? Aufregen darüber hilft wohl wenig…

So mag ich also anregen (mich und vielleicht auch andere): Worte, die uns auffallen, aufregen, anregen, berühren, alle diese auf einen Zettel zu schreiben und diese Zettel in zwei Kisten zu verteilen. Die eine mit der Aufschrift: „Nähren“, die andere mit der Aufschrift „Wiederholen“ (wie im obigen Experiment).

Jeder wird für sich entscheiden müssen, welcher Zettel wohin gehört….

 

Klaviatur der Gefühle

Dass unsere Erinnerungen zu einem großen Teil in einer Hirnregion abgespeichert sind, die dem Verstand nicht unmittelbar zugänglich ist, wissen wir ja inzwischen mit Hilfe der Hirnforschung. Das kann niemand so schnell ändern. Auf youtube entdeckte ich dieses alte Pionierlied, das ich in der ersten oder zweiten Klasse lernte.

Nun nehme ich beim Hören gerade wahr, dass beides gleichzeitig möglich ist: der Verstand entsetzt sich über diesen Text, der Schulkindern ab 6 Jahren vorgesetzt wurde und das Gefühl macht mir eine Gänsehaut (= wohliger Schauer). Die gleiche, die ich bekomme, wenn ich sehr berührende Lieder höre.
Es ist so unendlich leicht, die Hirne von Kindern zu beeinflussen…
Noch Jahrzehnte später, wenn alles längst durchdacht und neu bewertet ist, reagieren wir auf solche emotionale Konditionierungen. Ob es nun der Duft von Omas Plätzchen, ein Bild aus Kindertagen, der Geschmack von verhassten Lebensmitteln, ein alter Schlager, den wir eigentlich inzwischen ganz furchtbar finden, eine Werbung oder eben ein politisch hochbrisantes Lied ist – die Klaviatur der Gefühle ist die gleiche.

Ich wünsche mir, dass  in den jüngeren und folgenden Generationen niemals wieder jemand als Erwachsener eine wohlige Gänsehaut bekommen muss, wenn er solche entsetzlichen Texte hört.

Vom Fehlermachen

Über Heide Liebmanns Blog und ihre persönliche Geschichte vom Stehauf-Frauchen habe ich von der Blogparade Eine Kultur des Scheiterns entwickeln auf Petra Schuseils Blog Lebenstempo erfahren. Und heute, als ich ein paar alte Notizen sortierte, fand ich ein Zitat von meiner Frau Mama (siehe unten), das  zu dem Thema passt. Deshalb schließe ich mich gerne an.

Was hab ich mich gequält. Mit Mathe, mit russischer Grammatik, mit  unmöglichen Beziehungen. Immer hatte ich den Satz von meinem Vater im Ohr: „Es muss alles seine Richtigkeit haben!“ Richtig und falsch bekamen dadurch eine absolute Dimension, die ich perfekt verinnerlicht hatte. Wenn also etwas schief ging, dann konnte es entweder nur meine Schuld sein, weil ich etwas falsch gemacht hatte, oder aber es passierte, weil die Welt eben so ungerecht war. Sobald ich etwas wagte, hörte ich: „Sei vorsichtig! Das muss man sich alles erst gut durch den Kopf gehen lassen.“ Oder aber auch gerne: „Das haben schon ganz andere nicht geschafft!“ Natürlich rebellierte ich mächtig, und Sicherheit (ich glaubte damals, dass dies Sicherheit ist) wurde mir ein Greuel. Unter anderem war es die Energie der Rebellion, die mich seither die unmöglichsten Sachen anfangen ließ – oft unter großer Anstrengung. Manche sind gut gegangen, viele nicht. Auch große Verluste waren dabei. Manche sehr schlimm, manche nicht. Das Absolute am Richtigen und am Falschen ist mir darüber mit der Zeit verloren gegangen. Um diesen letzten Verlust habe ich nie getrauert. Die Angst vor dem Scheitern allerdings habe ich nicht von allein verloren. Sie kommt immer mal wieder unangemeldet zu Besuch und verschwindet nur dann, wenn ich sie in vollem Bewusstsein anschaue. Das geht im Stehen gut und auch im Sitzen. Mit den Füßen auf dem Boden und tiefem Atmen. Manchmal aber auch am Telefon – mit meiner besten Freundin.
Das alles begann ich erst ab Mitte 30 zu verstehen.  Vor etwa sieben Jahren. Dann bin ich auf den Jakobsweg gegangen, wo ich mit ein paar Ausnahmen jeden Tag an irgend etwas „scheiterte“ und jeden Tag  eine Menge Fehler machte. Aber am Meer bin ich nach 950 Kilometern angekommen. Es muss also auch etwas richtig gewesen sein.

Neulich hörte ich meine 76jährige Mutter sagen: „Fehler sind dazu da, dass man sie macht.“ Ich horchte auf und konnte es kaum glauben. Da sagt sie einfach so daher, was ich mir in vielen Jahren hart erarbeitet hatte.  „Hast du mir das früher auch gesagt?“, fragte ich. „Nein, aber jetzt bist du ja erwachsen, jetzt kann ich dir das ja sagen.“

Die Welt- und Menschenbildfrage einmal anders geklärt

Ein kleiner Junge kam zu seinem Vater und wollte mit ihm spielen. Der aber hatte keine Zeit für den Jungen und auch keine Lust zum Spiel. Also überlegte er, womit er den Knaben beschäftigen könnte. Er fand in einer Zeitschrift eine komplizierte und detailreiche Abbildung der Erde. Dieses Bild riss er aus und zerschnipselte es dann in viele kleine Teile. Das gab er dem Jungen und dachte, dass der nun mit diesem schwierigen Puzzle wohl eine ganze Zeit beschäftigt sei. Der Junge zog sich in eine Ecke zurück und begann mit dem Puzzle. Nach wenigen Minuten kam er zum Vater und zeigte ihm das fertig zusammengesetzte Bild. Der Vater konnte es kaum glauben und fragte seinen Sohn, wie er das geschafft habe. Das Kind sagte: „Ach, auf der Rückseite war ein Mensch abgebildet. Den habe ich richtig zusammengesetzt. Und als der Mensch in Ordnung war, da war es auch die Welt.“

(Autor unbekannt)

Windgeschützt

Ein Zitat aus Luise Rinsers „Mitte des Lebens“.

Ach, sagte sie, du verstehst mich schon. Ich wünsche mir ein einfaches Leben, ganz klar geordnet, mit bestimmten sauberen Grenzen, gleichmäßig, ohne größere Gefahren. Jetzt lachst du mich einfach aus.
Ja, sagte ich, jetzt lache ich dich aus, weil du dir das ja gar nicht wirklich wünschst.
So, sagte sie aufsässig, weißt du das so genau? Glaubst du denn nicht, dass ich es auch einmal satt haben könnte, immer so zu leben wie ein… ach, ich weiß nicht, wie ein Hase, über dem der Bussard kreist, Tag und Nacht?
Ehe ich etwas erwidern konnte, sagte sie leiste: Aber du hast ja recht, ich will es nicht anders, und ich will auch mit niemand tauschen.
Sie legte flüchtig ihre Hand auf meinen Arm, eine scheue, aber zärtliche Gebärde, die ich schon mehrmals an ihr bemerkt hatte.
Es klingt verrückt, sagte sie, aber es ist so: es gibt mitten im Schmerz eine windgeschützte Stelle, an die der Schmerz nicht gelangt, so heftig er auch ist, und an dieser Stelle sitzt eine Art von Freude, oder vielleicht nenne ich’s besser triumphierende Zustimmung.
Ja, sagte ich, das weiß ich.
Sie sah mich erstaunt an: Woher willst du das wissen? Du kennst mich doch kaum.
Doch ich weiß das. Ich spüre das, diese Unverletzbarkeit deines Wesens.