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Tabou, das Zentrum aller Sehnsucht…

Wieder einmal stocherte ich heute nach dem Aufwachen im Nebel, auf der Suche nach Spuren eines Traumes. Ich sinnierte dem Wort „Tabu“ hinterher, bemerkte, dass ich seit Jahren wie eine wilde Kriegerin gegen dieses Wort kämpfe. Am liebsten hätte ich es aus meinem Wortschatz gestrichen. Und vor allem das, was sich damit verbindet. Lebenslügen, verdrängte Geschichten, geschönte Vergangenheit, Angst. Und beileibe nicht nur meine eigenen… Ein aussichtsloser Kampf. Dass manchmal ein Buchstabe den Unterschied machen kann, um einen Kampf zu beenden, das habe ich heute lesend erfahren. Mein Blick fiel auf das Bücherregal neben dem Bett, in dem seit Jahren ein ungelesenes Buch steht. Texte von Christa Wolf, unter dem Titel „Auf dem Weg nach Tabou“ herausgegeben.

Mit diesen Texten konnte ich lange Zeit nicht viel anfangen. Ich weiß nicht einmal genau, warum. Versuche der Erklärung, chronologisch: Die Texte waren mir zu düster. Zu traurig. Nicht erträglich. Zu kompliziert geschrieben. Zu sehr unterschied sich meine Lebenswirklichkeit von dem, was sie in ihren Texten beschreibt. Viele „zu“, die alle ein Körnchen Wahrheit beinhalten, und alle genau so wenig zutreffen. So wie Christa Wolf Paul Parins Buch von den „Teufeln im Land“ gelesen hat, habe ich auch ihre Texte bisher gelesen: „flüchtig, flüchtend, gewärtig, dass aus den Schilderungen (…) jederzeit ‚das Grauen‘ hervorbrechen konnte“. An die zweite Lektüre hatte ich mich bisher nicht gewagt: „gewappnet, mit dem Stift, den Erinnerungs- und Assoziationsmustern folgend“. Heute scheint mir, dieses Buch habe auf mich gewartet. Auf einen Tag, an dem plötzlich genug Mut da ist, Zeilen von jemandem zu lesen, der gegen das Vergessen schreibt, schonungslos, aufrichtig. Und der mit dieser Art zu schreiben einen Spiegel vorhält.Wie war es wirklich für mich in jenen Tagen des Übergangs, der heute „Wende“ genannt wird? Wie war es wirklich für mich davor? Und danach? Werde ich es jemals fassen können? Wie auch Christa Wolf habe ich gelernt, meinem Gedächtnis zu misstrauen. In diesem Buch fand ich heute Fragen, die ich bisher nur gefühlt hatte, sie noch nicht formulieren konnte, zum Beispiel diese: „Wie kommt es, daß, je näher man an ‚die Wahrheit‘, das heißt, an sich selber, die multiplen Wesen in sich und besonders jenes Wesen herangeht, mit dem man sich am wenigsten identifizieren möchte: Wie kommt es, frage ich, daß sich in den Text, der sich auf die Spur dieses Wesens und seiner Wahrheit begibt, auf dem Weg vom Kopf über die Hand bis aufs Papier immer ein Hauch von Unaufrichtigkeit einschleicht?“ Und sobald die Frage formuliert ist, beginnen schon Ahnungen einer Antwort zu entstehen. Doch noch bevor sich die Worte formieren, beginne ich zu verstehen, dass ich eine definitive Antwort, in Worte gegossen, scheue. Und ich beginne zu verstehen, welch ungeheuren Mut es erfordert, sich wie Christa Wolf dieser unbedingten Aufrichtigkeit zu verpflichten, sie in Worte zu gießen, die Worte fremden Blicken auszusetzen  und gleichzeitig  diesen immer mitschwingenden Hauch der Unaufrichtigkeit auszuhalten. Manchmal entziehen sich die Worte einfach dem Fluss des Lebens. Worte fixieren dann Gegenwart, das Präsens, die Präsenz. Und schon sind sie Vergangenheit. Und schon widersprechen sie der Aufrichtigkeit, die an die Gegenwart gebunden ist. Die eigene Wahrheit ist permanenten Änderungen unterworfen – sie kann in jedem Augenblick anders sein. Vielleicht fühlen sich deshalb manche eigenen Texte so unaufrichtig an…

Christa Wolf selbst schreibt in ihrem Buch „Was bleibt“: „…da einem ja, wenn man nichts fühlt, alle Wörter frei zur Verfügung stehn.“ Man kann alles sagen, wenn man nichts fühlt. Ein mit Christa Wolf befreundeter Autor, Efim Etkind, schrieb dazu: „Je mehr man sagen könnte und je tiefer die Gefühle sind, desto weniger kann man ausdrücken, desto weniger Worte stehen uns zur Verfügung.“ Vielleicht ist auch dies ein Ansatz für eine Antwort auf die Frage nach der Aufrichtigkeit. Denn man versucht es dennoch, obwohl so wenige Worte noch zur Verfügung stehen.

In ihrer Laudatio für Paul Parin fand ich dies: „Tabou, ein Ort, den es nicht gibt, dessen Name immer wieder aufleuchtet, lockend, verführend, bis sie sich aufmachen müssen, ihn zu suchen; ein Ort, den man, wie billig, nur unter äußerster Anstrengung aller körperlichen und geistigen Kräfte erreichen kann. Den man ‚vergessen‘ muss, damit er einem endlich ‚entgegenkommt’…“

So ist es mit allen Sehnsuchtszielen, ob es sich um einen Ort handelt, die Aufrichtigkeit beim Schreiben oder bei der Arbeit die Straße, über die Beppo Straßenfeger in Michael Endes „Momo“ spricht. Man muss es vergessen, damit es einem entgegen kommt. Auch ein Tabu ohne „o“ gehört zu diesen Dingen. Wenn man gegen etwas kämpft, kann man es nicht vergessen. Und somit auch nicht erreichen… Hat man es aber erreicht, passiert dies, wie jeder, der einmal ein Sehnsuchtsziel erreicht hat, weiß:

„Und auch das gehört zu den Eigenheiten endlich erreichter Sehnsuchtsziele, zu den Gesetzen von Utopia: Was der Reisende  dort erfährt, ist eigentlich nichts ganz Besonderes, ’nur‘ das gesteigerte Normale, das konzentriert Menschliche, ein ‚Licht‘, das die Zukunft, die dunkle Wolkenwand, die heraufzieht, von fern her erleuchtet.“  Nein, dieses Licht ist nicht an die afrikanische Stadt Tabou, an keine Stadt und keinen Kontinent gebunden, es kann immer und überall auftauchen, wenn ein Sehnsuchtsziel erreicht ist. Die nächste Wolkenwand kommt bestimmt. Und dann ist es gut, dieses Licht gesehen und dabei zu haben…