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Jeder Mensch ist ein Künstler

Lass Dich fallen. Lerne Schlangen zu beobachten.
Pflanze unmögliche Gärten.
Lade jemand Gefährlichen zum Tee ein.
Mache kleine Zeichen, die ja sagen
und verteile sie überall in Deinem Haus.

Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit.
Freue Dich auf Träume.
Weine bei Kinofilmen,
schaukle so hoch Du kannst mit einer Schaukel bei Mondlicht.

Pflege verschiedene Stimmungen,
verweigere Dich, verantwortlich zu sein – tu es aus Liebe!
Mache eine Menge Nickerchen.
Gib Geld weiter. Mach es jetzt. Das Geld wird folgen.
Glaube an Zauberei, lache eine Menge.
Bade im Mondschein.

Träume wilde, phantasievolle Träume.
Zeichne auf die Wände.
Lies jeden Tag.
Stell Dir vor, Du wärst verzaubert.
Kichere mit Kindern. Höre alten Leuten zu.
Öffne Dich. Tauche ein. Sei frei. Preise Dich selbst.

Lass die Angst fallen, spiele mit allem.
Unterhalte das Kind in Dir. Du bist unschuldig.
Baue eine Burg aus Decken. Werde nass. Umarme Bäume.
Schreibe Liebesbriefe.

(Joseph Beuys)

Angefangene Entwürfe

Am 1.7. 1987 schrieb mir Madeleine, sie habe während der Zugfahrt einen  Schmied kennen gelernt hat. Sie hatte vorher gedacht, dass das noch so richtig mit Hammer und Amboss funktioniere wie im Märchenfilm. Aber nein. Sogar die hätten schon ihre Maschinen…. Am Ende des Briefes stand ein Spruch eines unbekannten Autors, den sie „mankt dem Briefpapier“ fand:  „Unser Leben ist wie das Atelier eines Künstlers : voller angefangener Entwürfe.“

Nie wird mir das deutlicher bewusst als in jenen Momenten, in denen irgendwo aus der Versenkung alte Briefe oder Fotos auftauchen, manchmal von längst vergessenen Orten und Menschen. Mit sehr vielen teilte ich über Jahre hinweg schreibend meinen Alltag. Sie wohnten in Kasernen, Studentenwohnheimen, eigenen Zimmern und manchmal im Zimmer unterm Dach. Die Wände befanden sich zum Beispiel in Kamenz, Spechtberg, Prenzlau, Vilnius, Kaunas, Liberec, Baku, Rostow am Don, Mexiko-City, Bamako, Prag, Lodz, Berlin, Leipzig, Neubrandenburg, Charleville-Mezières, Nouzonville, Paris, Abakan, Bukarest, Warnitz oder Anklam. Oft änderten sich Adressen. Auch meine.
Ich entdecke längst vergessene Spitznamen wieder, finde Gedichte, die mir etwas von den Leuten aus dem Land verraten, in dem ich groß geworden bin und das es nicht mehr gibt, lese Zeilen, die mich immer noch berühren (vielleicht sogar mehr als damals), manchmal von Leuten, von denen ich wirklich nicht mehr weiß, wer sie sind und warum sie sich für Übernachtung und Verpflegung bei meinen Eltern bedankten.
Alle von ihnen haben Spuren hinterlassen, auch wenn ich sie nicht mehr benennen kann. Gerald Hüther sagt, all das, was wir sind, verdanken wir den Begegnungen mit anderen Menschen.  Welche Spuren habe ich wohl in all diesen Leben hinterlassen?

Irgendwann schließen wir dann jeden dieser Entwürfe ab. Vielleicht alle auf einen Schlag, wenn wir mal gehen, vielleicht geht es aber auch anders. Barbara Sher regt dafür das Lebenswerk-Regal an.  Sie schlägt vor, all die angefangenen Entwürfe schön zu verpacken und zu beschriften, mit einer getrockneten Blume oder einer Zeichnung verziert, damit sie uns an all die schönen Dinge erinnern mögen, die wir gelernt und getan haben, vielleicht gerne weiter getan oder weiter gelernt hätten.  Damit sie uns den ganzen prallen Reichtum verdeutlichen, den wir auf unserer bisherigen Reise erworben haben. Es gibt immer wieder neue Entwürfe anzufangen. Das macht uns lebendig.